30 Zeitbomben

30 Filmemacher aus 30 Jahren Filmwoche nehmen sich 30 Minuten Zeit

Harun Farocki

Dreißig Jahre Düsterburg

Ich war schon 1974 in Duisburg, das Festival hieß da noch nicht „Duisburger Filmwoche“, da liefen Spiel-Filme aus dem Umkreis des „Filmverlag der Autoren“. Die vom Filmverlag wollten damals nicht mehr neuartige Kunst-Werke schaffen, sondern vielmehr kleine Unterhaltungsfilme, die aber einen persönlichen Zug haben sollten, wie das einer erklärte. Ich verließ die Stadt überstürzt, rannte von dem kleinen Hotel auf der Mercator-Straße, das es schon längst nicht mehr gibt, zum Bahnhof, dabei ging mir das Frühstücksei kaputt, das ich im Vorbeilaufen in die Manteltasche gesteckt hatte.
Damals war Ruzicka noch nicht dabei, der später die Kalauer-Kasse führte. Machte einer ein Wortspiel wie ich eben mit , Ein persönlicher Zug – ich rannte zum Bahnhof“, war gleich eine saftige Strafe fällig. Von diesem Kapital zehren wir noch heute.
Von 1978 an bin ich wohl zwanzig Mal auf der Filmwoche mit einem Film gewesen.
1978, beim ersten Mal, fand das Festival noch in der Stadthalle statt. Der Raum eignete sich mehr für ein Konzert mit Lena Valaitis, die später mit „Johnny Blue“ beinahe den Grand Prix Eurovision gewann und zuvor in Hüttenfeld das litauische Gymnasium besucht hatte, als für Filmvorführungen. Die Notbeleuchtung in den Treppen-Stufen war zu hell, wenn Zuschauer aufstanden, um die Vorführung zu verlassen, knallten die Klappsitze. Das geschah oft. Ich könnte sagen, dass mir jeder Klappstuhl wie ein Schuss klang und dass ich mir vorkam wie unter Dauerfeuer. Aber die Klappstühle klangen mir eher wie Peitschenhiebe in einer Sado-Maso-Show, was natürlich auch nicht stimmt. Am Nachmittag hatte ich mit Freunden in der Fußgängerzone Straßentheater gespielt, als Werbung für meinen Film. Da hatte uns eine Konkurrenz-Truppe die Show gestohlen, sie kamen im Rolls-Royce und bewegten sich zu einem Playback aus „Cabaret“, das war Reklame für eine Transvestiten-Show.
Nach der Vorführung ergriff Lena Valaitis das Wort oder eine Gewerkschaftlerin in Keilhosen. Sie sagte, sie hätte vieles nicht verstanden, ob ich ihr eine Sache erklären könnte. Da benahm ich mich daneben, wurde ausfällig, wie das heute nur noch Karmakar tut.
Beim nächsten Mal in Duisburg, 1982 wohl, fand die Sache am Dellplatz statt wie heute noch. Eben habe ich im Netz das Datum überprüfen wollen und fand zu dem Film, den ich damals zeigte, den Satz „Tristesse in trauter Zweisamkeit“. Meine Erinnerung an diesen Aufenthalt ist sehr bruchstückhaft, ein paar Momente erinnere ich sehr genau. Etwa die Diskussion nach dem Film von Ganz und Sander über Bois und Minetti. Einer fragte, warum Bois, der Emigrant gewesen war, mit Minetti, der in der Nazizeit in Deutschland geblieben war, nie wieder zusammen aufgetreten sei. Bois sagte: Das will ich Ihnen sagen. Er stand auf und ging umständlich um die beiden Podiumstische herum. Als er vor den Tischen stand, wartete er, bis es noch stiller wurde. Dann sagte er: Das sage ich lieber nicht, und ging zurück und setzte sich wieder. Als ich am Nachmittag des nächsten Tages Duisburg wieder verließ, wusste ich nicht, in welcher räumlichen Beziehung der Festival-Ort zu meiner Unterkunft oder zum Bahnhof gelegen war, ich wusste nicht einmal, wie das Kino zu dem Raum gelegen war, in dem die Diskussion stattfand.
Seit 1986 bin ich fast jedes Jahr auf der Filmwoche gewesen. Stets nur ein paar Tage, stets zur gleichen Jahreszeit, immer wieder die Begegnung mit den gleichen Leuten. Ein Stück Parallel-Leben, eine Zeitraffer-Erfahrung.
Wegen der Zeitsprünge zwischen den Duisburg-Aufenthalten nahm ich besonders deutlich wahr, was sich so änderte, wie Marx verschwand und Foucault kam, auch den Wechsel der Frisuren. Manche gaben die Geste der Aufsässigkeit auf dem Kopf ganz auf, andere passten sich den angebotenen Mode-Richtungen an.
Ich erlebte die Scheinblüte des Dokumentarfilms in den frühen 90er Jahren. Für eine kurze Zeit wurden sehr viele sehr teure Dokumentarfilme gemacht, einfach, weil auch ein teurer Dokumentarfilm billiger ist als ein billiger Spielfilm. Dann kamen sie aber dahinter, dass es noch billiger ist, gar keine Dokumentarfilme in Auftrag zu geben.
Mitte der 90er Jahre dachte ich, es gäbe für den Dokumentarfilm hier mehr Geld als Talent, als das Geld aber weniger wurde, wuchs das Talent nicht an.
Der Festival-Ort am Dellplatz änderte sich ständig, in meiner Erinnerung morpht er so stark, dass mir schwindelig werden kann. Jahrelang gab es in der Kneipe einen Dia-Projektor, der unablässig ein paar Filmposter an die Wand warf. An die Decke waren Blechdosen für Flüssigkäse geklebt, die Öffnung nach unten. Es traf mich, als dieses Zeugs verschwand. Duisburg war bis in die 70er Jahre das europäische Zentrum für die Abfüllung von Flüssigkäse. Über den allmählichen Untergang dieses Industriezweiges wurden viele Filme gedreht, die alle in Duisburg zu sehen waren. Ich habe sie alle gesehen und bin aus keinem, nicht einmal mäuschenstill, hinausgegangen.
Die mehreren Gebäude am Dellplatz sind immer wieder anders teilgenutzt worden, immer wieder wurden andere Verbindungen von einem Bauwerk zum anderen gebrochen und geschlagen. Die Teilerinnerungen, wann in welchem Raum die Diskussion stattfand und wie man vom Kino oder von der Kneipe dahin kam, sind mir besonders wertvoll, weil davon im Netz nichts zu finden ist. 1990 fand die Abschlussfeier beim Griechen im ersten Stock neben dem Kino statt. Der Grieche hatte ein grelles weißes Licht brennen, wie auf dem Wochenmarkt, in seinem Glasbüffet gab es kalte Speisen und warmen Retsina. Da saß auch Ophüls, der gesagt hat, er würde lieber mit jungen Mädchen im Studio Spielfilme drehen als mit alten Nazis Dokumentarfilme.
Das ganze Jahr über habe ich oft nicht daran denken müssen, in Duisburg ist mir stets wieder deutlich geworden, dass ich einem Berufsstand angehöre. Nicht einmal ein Kind, das im Schatten der Kirche am Dellplatz aufwächst, hat den Wunsch DokumentarfilmerIn zu werden. Mit Spielfilmen kann man es zu einem Swimmingpool bringen, mit Dokumentarfilmen nicht. Ich glaube deshalb beschweren sich bei diesem Festival die DokumentarfilmerInnen so sehr über das Wetter, die schlechte Küche, die hässliche Stadt.
Man könnte denken, wir DokumentaristInnen müssten all das gewohnt sein, weil wir ja nicht in gemütlichen Studios mit alten Nazis drehen und nicht an Pools mit jungen Mädchen. Aber immer wenn wir aus unseren behaglichen Lofts in den Großstädten oder aus unseren gemütlichen Bauernhöfen in den Dörfern für einen Tag in eine Miststadt wie Duisburg müssen, genießen wir abends unser Beute-Glück. Wir haben ein paar Minuten ergattert, die viel weniger kosten als im Etat veranschlagt ist, oder die so toll sind, dass wir hoffen, unser Film werde nach Duisburg eingeladen. Wenn nicht, genießen wir abends die Tristesse in trauter Zweisamkeit in einem Transvestiten-Schuppen, um uns für unseren Lebensverlust zu entschädigen.
Um mich von meinen Kolleginnen und Kollegen – wie man früher in Duisburg sagte –, um mich von ihnen abzusetzen, habe ich oft die Schönheit der Stadt hervorgehoben, etwa die Jugendstil-Einflüsse auf den Fassaden der Kleinbürgerhäuschen, die es an vergleichbaren Fassaden vergleichbarer Häuschen vergleichbarer Städte nicht gibt.
Einmal sagte in Duisburg ein Filmemacher, als wir über einen Film sprachen, der von keinem von uns beiden war: Ich werde nicht die Arbeit eines Kollegen kritisieren. Als hätten wir Filmarbeiter alle Arbeit in einem Großbetrieb und müssten auch und besonders die dummen und faulen Kolleginnen und Kollegen solidarisch beschützen. Auch wenn ich dafür in der Gewerkschaftshölle schmoren muss, muss ich doch sagen, dass mir nicht alle Filme in Duisburg, ob mit oder ohne Flüssigkäse, gefallen haben. Ich sage aber nicht, wie ich mir diese Hölle vorstelle. Mit der Gewerkschaft ist es inzwischen so gekommen wie mit den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, die die Konkurrenz gegen das „Schlecker-TV“ verloren haben. An die Macht dieser beiden Institutionen wird heute nur noch in der jeweils eigenen Kantine geglaubt. Früher schickten Gewerkschaft und Nicht-Privatfernsehen Vertreter nach Duisburg, um der je eigenen Behördenästhetik Geltung zu verschaffen. Heute kommen nur noch Underground-Redakteure nach Duisburg, solche, die nachts an der Fassade hochsteigen oder sich durch den Schornstein abseilen, um ein Projekt im eigenen Haus durchzusetzen.
Als ich Ophüls am Buffet des Griechen sah, da dachte ich, er sei so schlechtgelaunt, weil der Ort so unmondän war. Dabei muss er doch die Kantine der französischen Sender und die des WDR gekannt haben, vielleicht sogar die von Sat1. Als er in Hollywood zur Schule ging, wollte er natürlich Spielfilmregisseur werden.
Übers Jahr gehen mir manchmal Sätze durch den Kopf wie „Er wollte Schriftsteller werden und wurde Chefredakteur bei der ‚Schlecker-Post’. „Komme ich an einem Sado-Maso-Shop vorbei und höre die Peitschen knallen wie ein Dauerfeuer, fällt mir gleich ein, dass ich in meinen Filmen nichts hingekriegt habe, das dem Foucaultschen Gedanken-Zen entspricht.
Auch ich bin am Spielfilm gescheitert und musste Dokumentarfilmer werden.
Das Jahr über werde ich damit fertig, auch damit, dass ich es nicht zum Foucault oder Porno-Star gebracht habe. Vielleicht hat die ideelle Festival-Gesamtleitung den Festival-Ort immer wieder verändert, damit ich nicht jedes Mal schon von einer bestimmten Dose an der Decke an eine Peinlichkeitsempfindung des letzten Jahres, oder der letzten 10, 20 Jahre erinnert werde. Wenn ich nicht nach einer Vorführung durch die Feuertür durchs kalte Treppenhaus zum Diskussionsraum geführt werde, wie vor zwei Jahren, und nicht durch den Keller hinter dem Bistro in einen Raum im HundertMeister-Haus wie im Vorjahr, muss ich nicht daran denken, dass ich im letzten Jahr, als ich am Damenklo vorbeikam mir das Sätzchen „Ein Film sollte nicht wie ein Röntgenbild sein, eher wie ein Kontrastmittel“ zurechtlegte, den ich bei der Diskussion nicht los wurde.
Nach den Regeln, die ich in meinem Schreiben hier walten lassen will, müsste jetzt Lena Valaitis wieder auftauchen, eine Frau, deren Name dem kollektiven Gedächtnis des ideellen Gesamt-Idioten fest eingeprägt ist, ohne dass er wüsste warum. Max Goldt fiele es leicht, sie überraschend aus einer gänzlich unerwarteten Richtung wieder auftreten zu lassen. Ich nicht, habe aber schon ganz andere Vorbilder nicht erreicht.
Stattdessen komme ich hier auf Werner Ruzicka zurück, der eine Stimmung der Festlichkeit erzeugen kann. Eine Trotz-Allem-Festlichkeit, wie wir sie aus dem Zirkus kennen: die Seiltänzerin hat nur ein Bein, die Zelte stehen im Wasser, die Raubtiere sind verpfändet, aber der Impresario lässt die Idee der Festlichkeit um so reiner strahlen. Bedenkt man die geistige und geldliche Lage des Dokumentarfilms, könnte man auf einen Floh-Zirkus kommen. Ruzicka aber macht mich glauben, ich wäre in seiner Manege Lola Montez. „Da gehst du kaputt dran“, wie Rita Groß sagt.

Berlin, 13. August 2006, 13.30 Uhr