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duisburger filmwoche 34
"horizont"

Der Horizont ist unendlich, die Sichtweite begrenzt.

24 Dokumentarfilme laden ein, die eigene Sichtweite neu einzurichten.
In gewohnt intimer Atmosphäre abseits von Massenambitionen und großen Gesten bietet das Programm Bilder, Töne und Stimmen, die sich dem herkömmlichen dokumentarischen Kanon entziehen. Dabei werden wir als Zuschauer immer wieder auf uns selbst zurückgeworfen. Wie prägen Erwartungen unsere Sichtweise? Welche Vergleiche lenken unseren Blick? Wo stehen wir?
Die Auseinandersetzung mit dem Nachlass des Nationalsozialismus und seinen Auswirkungen auf die nachkommenden Generationen bleibt weiterhin ein wichtiges Sujet. Grenzbereiche des Privaten werden ausgelotet, das (Über)Leben in Grenzgebieten erkundet, (politische) Fragen gestellt – mittels genauer Beobachtung oder eigenwilliger Narration, die auf Simplifizierungen verzichtet und dem Zufall seine Chance gibt.
Zehn Arbeiten laufen als Uraufführung, drei als deutsche Premiere.

Die Filmwoche eröffnet mit der Studie über eine außergewöhnliche Person. Jörg Adolph und Gereon Wetzel begleiten Verleger Gerhard Steidl bei seiner Arbeit.
How to make a book with Steidl (D, 2010) erzählt von einem rastlosen Leben, von der Liebe zum Material, von der Leidenschaft zur Arbeit und von Treffen mit Auftraggebern wie Günther Grass, Robert Frank oder einem arabischen Scheich.

Körperbilder

"Was eine Krankheit, was eine Behinderung ist, bestimmt nicht der Körper, es wird durch eine gesellschaftliche Konvention, durch Zeichen und Wahrnehmung bestimmt." (Georg Seeßlen) Eine Reihe Arbeiten erzählt vom Leben mit dysfunktionalen Körpern; hyperaktiv, nicht kontrollierbar, stillgelegt. Wolfram Seeger zeigt in Autisten (Uraufführung, D, 2010), wie immer wiederkehrende Verhaltensmuster, Rituale und Zwangshandlungen den Heimalltag prägen. Im ‚Haus Bucken’ treffen starke Persönlichkeiten aufeinander, mit denen die Familien einfach nicht fertig geworden sind. / Ein sehr intimes Portrait zeichnet Tina Gerken in Grabe dir den Brunnen bevor du trinken willst (D/2010). Dieser Satz steht an der Wand ihrer Schwester Lena, die unter extremen Zwangsvorstellungen leidet und versucht, sich mit der unkontrollierbaren Gedankenflut zu arrangieren. Die Angst davor ist nicht weniger schlimm als der Anfall selbst. / Als der Salamander unerlaubt die grüne Schlange umarmt, trifft ihn der Fluch, "sich unter das entartete Geschlecht der Menschheit zu begeben...und ihr dürftiges Leben teilen." René Frölke verknüpft die Fäden einer Familiengeschichte, in der Jürgen die Hauptrolle spielt. Jürgen, der als geistig behindert, aber förderbar gilt, wird als Kind adoptiert. Seine Leidenschaft ist das Malen. Von der Vermählung des Salamanders mit der grünen Schlange (Uraufführung, D/ 2010) erzählt vom Anderssein, von Familienstrukturen, von Grenzen und Grenzüberschreitungen. / Janis lebt seit 20 Jahren am Meer, kaum ein Anwohner kennt sie. Janis erzählt aus ihrem Leben und lässt die Kamera schweifen. Holding Still (D/2010) von Florian Riegel zeigt uns durch die Augen eines unbeweglichen Körpers ein Tor zur Außenwelt. / Daniela befindet sich nach einem Unfall im ‚Low Consciousness State’ und bedarf der beständigen Betreuung. Peter Ott beobachtet in Gesicht und Antwort (Uraufführung, D/2010) ein Leben, das in immer gleichen Bahnen verläuft: Liegen, Gefüttert Werden, Baden, Spazieren,  Fahren, Liegen, Schlafen. Wir sehen in ihr Gesicht. Wo fängt Bewusstsein an und wo hört es auf?

Inseln des Überlebens

Vom Leben an der Schwelle zu einer besseren Existenz, das von der Hoffnung auf eine sorgenfreie Zukunft zehrt. Vom Leben außerhalb der großen Gemeinschaft, welche die Richtlinien der Normalität vorschreibt. Soy Libre (Uraufführung, D/2010) von Andrea Roggon gibt ungewöhnliche Einblicke in den Alltag im kubanischen Sozialismus: Gesichter, Dinge, Klänge und Stimmen erzeugen eigene Bilder. Dazu Erzählungen aus dem Off, in denen offenbar wird, dass Freiheit und Glück anscheinend nur woanders zu finden sind. / Das Leben in Mittelvietnam ist von Überschwemmungen und minenverseuchten Landstrichen gezeichnet. Der 13jährige Quynh und seine Familie hoffen durch Umsiedlung auf ein besseres Leben. Tage des Regens (deutsche Premiere, D/2010) von Andreas Hartmann gibt Einblicke in einen harten Alltag und in seine überlebensnotwendigen Rituale. / Mexikanische Familien in der Region Veracruz können dank Globalisierung nicht mehr vom lokalen Zuckeranbau leben. Familien müssen sich trennen und ohne Papiere in den USA arbeiten. Die fünf Himmelsrichtungen (deutsche Premiere, A/2009) von Florian Schönwiese taucht in die hybride Welt des (illegalen) Migrantendaseins ein. / In Kleinstheim (D, 2010) leben sieben Teenager mit ihren Erziehern,  zwischen Lebensentwürfen, Amt, Liebe und Verzweifelung. Ohne Eltern, die doch irgendwie im Nacken sitzen. Stefan Kolbe und Chris Wright lassen uns zuschauen und an ihrem Leben teilhaben. / Karl D. wird nach Verbüßen seiner Haftstrafe aufgrund mehrerer Vergewaltigungen entlassen. Sein Bruder nimmt ihn bei sich auf. Die Heinsberger hyperventilieren: ein "Kinderschänder" in der Nachbarschaft darf nicht sein. Der Bruder zieht einen Sichtschutzzaun um sein Haus und bietet Paroli. Julie Kreuzer und Mareille Klein zeichnen in Auf Teufel komm raus (D/2010) ein komplexes Gefüge aus Schuldzuweisungen und beschreiben ein Dilemma unserer Gesellschaft. / Ein anderer Blick auf das Ruhrgebiet im großen Jahr von RUHR 2010. Hans-Peter Noll führt durch stillgelegte Industrie der Montan AG Essen. Ausgedehnte Pläne zur Neunutzung bestehen seit den 90er Jahren, doch ein Grundstein ist irgendwie unauffindbar. Brachland weit und breit. Martina Müller erzählt in Zwei, drei Standorte (Uraufführung, D/2010) von Orten, die erst großzügig verplant und dann im Stich gelassen werden: einsame Zukunftsfiktionen.

Erbschaften

Erbschaften können vielerlei Gestalt annehmen, manche können ausgeschlagen werden, manche werden übertragen, andere bewusst weitergegeben. In Liebe Geschichte (deutsche Premiere, A/2010) von Simone Bader und Jo Schmeiser wird das schwierige Erbe der Täterschaft im Nationalsozialismus in der eigenen Familie angenommen. Es geht um die Rolle der Frauen, um verdrängte Sexualität, um (Ohn)macht und Gefühl. Jede der Erzählungen ist mit einem Ort in Wien verbunden und erzeugt ein reiches Spannungsfeld zwischen Innen- und Außenwelt. / Herr Berner, einst Feldwebel in der Waffen-SS, lebt ein eintöniges Leben im Altersheim. Die alten Zeiten halten ihn vom Schlafen ab. Regisseurin Serpil Turhan bietet ihm den nötigen Raum und löst in Herr Berner und die Wolokolamsker Chaussee (Uraufführung, D/2010) einzelne Schichten des Kokons aus Erinnerung und Verdrängung. / Die Kunst des Geschichten-Erzählens, die als Tradition im Westen abhanden kam, gehört in Marrakesch zum kulturellen Leben. Al-Halqa (D, 2010) von Thomas Ladenburger erzählt die Geschichte des Vaters, der seine Kunstfertigkeit an den Sohn weitergeben will. Ein Erbe, das viel Zeit und Ausdauer braucht, um sich gänzlich zu entfalten. / Die Brüder Dubini öffnen das Haus ihrer Urgroßeltern im Schweizer Tessin und lassen es die Lebensgeschichten seiner Bewohner erzählen. Parallel zum endgültigen Abriss zeigt Die große Erbschaft (CH/D, 2010) welche Spuren und Schätze dieses Gehäuse über die Jahre konserviert, aber auch verborgen hat. / Auch ein fremdbestimmtes Erbe will ausgetragen werden oder der erste Dokumentarfilm über Dracula: Die literarische Version des blutsaugenden Dracula von Bram Stoker wurde dem rumänischen Mittelalterfürsten ‚Vlad, der Pfähler’ übergestülpt. Stanislaw Mucha begibt sich auf Spurensuche in Rumänien und deckt Die Wahrheit über Dracula (D, 2010) auf: Der Vampir steckt in jedem.

Brücken schlagen

Gedanken, Stimmen und Szenen über die Unfassbarkeit des Lebens, über politische Innovation und Demontage, über Demokratie im Allgemeinen, über das Verwischen der Grenze von Krieg und Frieden, über Kapitalismus und Kunst.
In LUS oder Geschmack am Leben (Uraufführung, D/2010) spekulieren Christen, Juden, Moslems und Atheisten, Jung und Alt über das Jenseits. Wir sehen, wie mit den Toten umgegangen wird. Erwin Michelberger verbindet Leben und Tod zu intensiven Episoden über unsere Ängste und Visionen. / In Maine befinden sich 32 Sonnenkollektoren, die Jimmy Carter zu seiner Amtszeit auf dem Dach des Weißen Hauses anbringen ließ. Seine progressive Energiepolitik wurde 1986 von Reagan praktisch wie symbolisch demontiert. A Road Not Taken (deutsche Premiere, CH/2010) von Christina Heimauer und Roman Keller begibt sich auf die Reise, trifft engagierte Zeitzeugen wie Umweltaktivisten und hinterfragt Möglichkeiten und Grenzen amerikanischer Umweltpolitik und amerikanischer Demokratie. / Philip Scheffner nimmt zwei Randnotizen als Ausgangspunkt: Am 14. November 2005 wird im holländischen Leeuwarden ein Spatz erschossen, nachdem er 23000 Dominosteine umgeworfen hat. In Kabul stirbt ein deutscher Soldat in Folge eines Selbstmordattentates. Der Tag des Spatzen (D/2010) macht sich auf die Suche nach dem Krieg in Deutschland. Leben wir eigentlich im Frieden oder im Krieg? / Karl Geiser (1898-1957) war Bildhauer, Zeichner und Fotograf, eine widersprüchliche Persönlichkeit seiner Zeit. Wie lässt sich das Selbstportrait eines Toten zeichnen? Alexander J. Seiler lässt den Künstler in Geysir und Goliath (Uraufführung, CH/2010) in seinen eigenen Werken und Texten zu Wort kommen. / Parallele Alltagswelten: tag- oder nachtaktive Leben. Ivette Löcker begleitet in Nachtschichten (Uraufführung, A/D/2010) Menschen bei der nächtlichen Arbeit und lotet ihre Beweggründe aus. / Zeitalter Pop. Frank Wierke begleitet Die Sterne bei der Entstehung ihres aktuellen Albums; ohne Team, künstliches Licht oder Stativ. Wie kommen die Texte zustande, die mit zum Kern deutscher Popmusik zählen? STERNE (Uraufführung, D/2010) zeigt musikalisches Arbeiten, zwischen Durststrecken und Energieschüben, zwischen eigenen Ansprüchen und den Normen des Musikbusiness.

EXTRA  – in Zusammenarbeit mit 3sat
Der Körper des Autoren
Klaus Wildenhahn zum 80. – ein Gespräch

Über vierzig Dokumentarfilme umfasst das Werk von Klaus Wildenhahn – ein Stück deutscher Dokumentarfilmgeschichte und zugleich eine subtile "Gegen-Chronik" deutscher Befindlichkeiten und Mentalitäten. Wildenhahn war zudem einer der Gründer der Duisburger Filmwoche und ihr kontinuierlicher Weggefährte – als Autor oder Gast. Wir möchten in dieser Veranstaltung Klaus Wildenhahns filmische wie auch theoretische Arbeit würdigen: Zwei Filme – die wir zusammen mit ihm ausgesucht haben – sollen dabei der Ausgangspunkt sein:
James O. Smith – Organist
1. Die Europa-Tournee des Jazz-Organisten Jimmy Smith.
2. Ein Jazz-Organist in Amerika.
von Klaus Wildenhahn | D 1965/66  | s/w | 55 & 45 min 
Das Gespräch mit Klaus Wildenhahn führen Frank Wierke und Werner Ruzicka.

en plus
ARTE und die Duisburger Filmwoche präsentieren:

Die Gesellschaft des Spektakels
von Guy Debord | F 1973 | s/w | 88 min
Ein "Theorie-Western" schrieb "Le Monde", als DIE GESELLSCHAFT DES SPEKTAKELS 1974 in die Kinos kam. Eine Collage aus Filmklassikern, Bildern der Werbung, Nachrichten und Archivmaterial. Guy Debord hatte das gleichnamige Buch 1967 in Paris veröffentlicht; nur wenige Monate später las es sich schon wie eine Kriegserklärung der Bewegung, die Frankreich im Mai 1968 in ein Aufstandsgebiet verwandelte. Fünf Jahre nach den Ereignissen machte der französische Autor mit seinem theoretisch-poetischen Hauptwerk dann, was Eisenstein mit dem Buch des Marxismus, dem "Kapital" geplant hatte: eine Verfilmung – von Debord selbst gesprochen und unter Verwendung der besten Thesen seines Buches. (Roberto Ohrt)

Fenster: Filmhochschule
Kunsthochschule für Medien Köln: Dokumentarische Miniaturen

Ein Ausflug in die dokumentarische Kurzform. Die Filmwoche präsentiert sieben dokumentarische Miniaturen aus der Werkstatt der KHM. Folgende Spielregeln galt  es zu befolgen: freie Wahl des Sujets, Recherchen, ein visuelles Konzept, zwei Rollen 16mm-Film (Video als Ausnahme), Originalton, keine nachträgliche Off-Töne wie Musik oder Interviews. Präsentiert von Diedrich Leder.

doxs! kino

22 internationale Dokumentarfilme, darunter sieben Produktionen aus dem Länderschwerpunkt Großbritannien, werden bei der 9. Ausgabe von doxs! kino für Duisburger Schulklassen gezeigt. Das ausführliche Programm steht online unter:
www.do-xs.de