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Die Preisträger
der 43. Duisburger Filmwoche

ARTE-Dokumentarfilmpreis

Der mit 6.OOO Euro dotierte ARTE-Dokumentarfilmpreis, überreicht durch Wolfgang Bergmann, Geschäftsführer ARTE Deutschland & Koordinator ARTE im ZDF, geht an

OLANDA
von Bernd Schoch | DE 2O19 | 154 Min.

OLANDA von Bernd Schoch | DE 2O19 | 154 Min. Bernd Schoch

Begründung der Jury:
Es beginnt in der Dunkelheit. Ein abstraktes, organisch anmutendes Bild geht über in einen Sternenhimmel. Schemenhaft und von kargem Licht erleuchtet sehen wir Menschen. Sie wachen auf, ein Morgengebet wird gesprochen. Mit den Arbeitern bricht der Film auf in den Wald, begibt sich mit ihnen auf die Suche. Ruhig, behutsam entfaltet sich die Erzählung.
In den nächsten zweieinhalb Stunden begleiten wir Pilzsammler in den steilen Berghängen der rumänischen Karpaten. Lange Beobachtungen von Arbeit und Alltag machen Zeit, Entfernungen, Kälte und Anstrengung erfahrbar. Pilze sammeln ist hier wirtschaftliche Notwendigkeit. Jeden Sommer kommen Menschen hierher, bauen ein improvisiertes Zeltlager auf. Ihren Lebensunterhalt verdienen sie während der dreimonatigen Pilzsaison. Oder auch nicht. Über den Erfolg bestimmt die Natur, über das Verdienst der Markt. Der Film macht die ökonomischen Verflechtungen dieser Parallelwirtschaft sichtbar, die in dem Bild des Myzels ihre Entsprechung finden: Sammler, Zwischenhändler, Arbeiter, die die Pilze für die Kunden in Westeuropa säubern. Gezeigt wird die Härte dieses kapitalistischen Kreislaufs, aber auch wie Gemeinschaften entstehen, manchmal konfliktgeladen, oft solidarisch.
Bernd Schoch beobachtet geduldig und präzise die Realität dieser Welt, und findet gleichzeitig magische, wirklichkeitsentrückte Bilder für Menschen wie Landschaften. Durch seine Bildsprache, die Sensibilität und den Respekt, mit denen er seinen Protagonisten begegnet, gelingt ihm ein kinematographisch herausragendes Werk.

Lobende Erwähnung für

UNA PRIMAVERA
von Valentina Primavera | AT/DE/IT 2O18 | 8O Min.

UNA PRIMAVERA von Valentina Primavera | AT/DE/IT 2O18 | 8O Min.

Eine lobende Erwähnung möchten wir einer mutigen Filmemacherin aussprechen, deren Film uns in seiner Dringlichkeit auch mehrere Tage nach der Vorführung nicht loslässt. Von den ersten Bildern an wird spürbar, dass Valentina Primavera ihn machen musste. „Una Primavera“ ist eine sehr persönliche Arbeit von großer geschlechterpolitischer Tragweite. Die Geschichte einer vermeintlichen Emanzipation wird zur klugen wie erschütternden Erzählung tiefsitzender patriarchaler Familienstrukturen.

9. November 2O19, die Jury: Esther Buss, Christian Popp, Serpil Turhan

 

3sat-Dokumentarfilmpreis

Der mit 6.OOO Euro von den vier Partnern des Gemeinschaftsprogramms ZDF, ORF, SRG und ARD dotierte 3sat-Dokumentarfilmpreis, überreicht durch Natalie Müller-Elmau, Koordinatorin 3sat, geht an

BEWEGUNGEN EINES NAHEN BERGS
von Sebastian Brameshuber | AT/FR 2O19 | 85 Min.

BEWEGUNGEN EINES NAHEN BERGS von Sebastian Brameshuber | AT/FR 2O19 | 85 Min. Sebastian Brameshuber

Begründung der Jury:
Am Anfang steht eine mythische Erzählung über den Beginn des Eisenabbaus am österreichischen Erzberg.
In „Bewegungen eines nahen Bergs“ übersetzt Sebastian Brameshuber diesen Mythos über ein verhängnisvolles Tauschgeschäft in eine assoziative Raumlogik, in der sich Vergänglichkeit manifestiert. Wir begegnen Clifford Agu, der aus Nigeria stammt und durch die abgelegene Gegend streift, um an betagten Autos seine Nummer zu hinterlassen. Wir begleiten ihn in seine Werkstatthalle, in der er die Maschinen in alle Einzelteile zerlegt, beobachten, wie scheinbarer Schrott in einen Kreislauf der globalen Wiederverwertung überführt wird.
Cliff ist eine Figur randständiger Ökonomien. Der Blick heftet sich an eine Person, die in sich ruht, dennoch entsteht der Eindruck einer opaken Figur jenseits dieses klar umrissenen Umfelds. In den Bewegungen von Kamera und Montage wird eine Beziehung zwischen unterschiedlichen Räumen erstellt und ergründet, was mitschwingt im Dazwischen: Entwurzelung, Migration, Anpassung, Leben und Überleben. Jene zugleich fernen wie omnipräsenten Prozesse betreffen Menschen wie Dinge. Sebastian Brameshuber verschafft diesen Denkbewegungen eine filmische Form, die – unprätentiös und elaboriert – einen magischen Materialismus einfordert.

Lobende Erwähnung für

TRÄUME VON RÄUMEN 
von Matthias Lintner | DE 2O19 | 85 Min. | Deutsche Erstaufführung

TRÄUME VON RÄUMEN von Matthias Lintner | DE 2O19 | 85 Min.

Lobend erwähnen möchte die 3Sat-Jury den Film „Träume von Räumen“ von Matthias Lintner, weil er in einem gedanklichen und inszenatorischen Reichtum Zugänge zu einem der Gentrifizierung geweihten Haus legt, indem er den bunten Alltag der darin lebenden Menschen erzählt.

9. November 2O19, die Jury: Michael Baute, Tereza Fischer, Lena Stölzl

 

Preis der Stadt Duisburg

Der mit 5.OOO Euro dotierte Preis der Stadt Duisburg, überreicht durch Bürgermeister Volker Mosblech, geht an

UN CUENTO SIN TI
von Michael Fetter Nathansky | DE 2O19 | 29 Min. | Uraufführung

UN CUENTO SIN TI von Michael Fetter Nathansky Michael Fetter Nathansky

Begründung der Jury:     
Das Setting könnte aus einem Film der Marx Brothers stammen, der Beginn eine Reflexion über staatliche Überwachung und dem Verschmelzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit andeuten. Es ist aber eine Familiengeschichte. Oder eine Coming-of-Age-Story des Regisseurs? Oder doch nur das Nebenprodukt eines ganz anderen Filmdrehs, wie das auch einmal behauptet wird?
Wir folgen jedenfalls einer Reihe performativer Inszenierungen in einer Wohnung ,die gleichzeitig Theaterbühne wie Erinnerungsort an den Patriarchen der Familie des Regisseurs ist, dessen Geschichte einer Flucht eben nicht erzählt werden soll und dann in einem Satz fällt. Dabei dienen diese Eingriffe, die sich der Tropen des Dokumentarfilms bedienen, Distanzen zu überbrücken: zwischen Innen und Außen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Heimat und Fremde und zwischen Arm und Reich. Dabei kann der Regisseur nur scheitern und das weiß er. Dieser Prozess jedoch verläuft klug und lustvoll, nicht zuletzt dadurch, dass der Regisseur auch sich selbst zum Gegenstand seiner performativen Untersuchungen macht, verwundbar auftritt, kokett-bescheiden, und damit die Klischees der Autorenschaft mitthematisiert. Der kurze und präzise Einsatz des Archivmaterials hilft nicht nur ein problematisches Familiengefüge, inklusive eines Moments der möglichen Aussöhnung, darzustellen, sondern entwirft in seinem Bezug zur Gegenwart ebenfalls ein historisches Außen der Klassenunterschiede und einer immer noch wirksamen Kolonialgeschichte.

Lobende Erwähnung für

FLEISCHWOCHEN
von Joachim Iseni | AT 2O19 | 37 Min. | Deutsche Erstaufführung

FLEISCHWOCHEN von Joachim Iseni

Wir sprechen Joachim Iseni und seinem Film „Fleischwochen“ hiermit eine lobende Erwähnung aus: Die Zeit des Schlachtens und Verwertens stellt den dramaturgisch klar abgegrenzten Raum für diese Familienskizze an einem oberösterreichischen Bauernhof dar. Der dargestellte Generationenkonflikt weist jedoch weit über die Familie hinaus und reißt Themen der Erwerbsarbeit, unbezahlter Betreuungs- und Pflegearbeit und ihrer geschlechtsspezifischen Zuordnung an. Fernab jeglicher Romantisierung des ländlichen Raums beschreibt Iseni diesen gekonnt mit poetischen Szenen, die die Dialektik zwischen produktivem Tun und Arbeit aufmachen.

9. November 2O19, die Jury: Stefan Höh, Claudia Slanar, David Wegmüller

 

„Carte Blanche“
Nachwuchspreis des Landes NRW

Der mit 5.OOO Euro dotierte „Carte Blanche“ – Nachwuchspreis des Landes NRW, überreicht durch Dr. Hildegard Kaluza, Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, geht an

UNA PRIMAVERA
von Valentina Primavera | AT/DE/IT 2O18 | 8O Min.

UNA PRIMAVERA von Valentina Primavera Valentina Primavera

Begründung der Jury:
Im Zentrum des prämierten Films steht eine zwiespältige Heldin, die zwischen Mut, Selbstmitleid, Familiensinn und Einsamkeit pendelt. Die Frage, die sie umtreibt, lautet: Kann ich meine Vergangenheit vergessen und im Leben nochmals neu anfangen?
Die Regisseurin begleitet die Heldin ihres Films auf diesem ebenso schmerzvollen wie reinigenden Prozess. Sie erzählt die Geschichte einer dysfunktionalen Familienstruktur und fragt, in welchem System sich diese etablieren konnte. Wie ist die Selbstbestimmung einer Frau und Mutter möglich, wo noch offen das Männlichkeitsideal Mussolinis verteidigt wird?
Der Film ist eine Konfrontation mit der Unfähigkeit, über Unausgesprochenes innerhalb einer Familie zu sprechen. Die Regisseurin, die gleichzeitig die Tochter ihrer Heldin ist, ist Teil dieser Konfrontation und übernimmt im Film dafür die Verantwortung.
„Cos’è la famiglia?“ – Was ist die Familie? – so lapidar die im Film aufgeworfene Frage scheint, so komplex sind die Antworten, die der Film gibt. So zeigt er keine klassische Heldin, der der ersehnte Befreiungsschlag gelingt. Vielmehr führt er beispielhaft vor, warum die Konsequenzen des Patriarchats und der strukturellen Gewalt nicht einfach vergessen werden können – und auch nicht vergessen werden wollen.
„Separare non è dimenticare“ – Sich von etwas trennen, heißt nicht, es zu vergessen – diese Erkenntnis der Protagonistin ist am Ende die Legitimation für ihren ganz persönlichen Entschluss, zum Ehemann ins gemeinsame Haus zurückzukehren. Es ist aber auch die Legitimation des Films, uns diese private Familiengeschichte zu erzählen und durch sie eine systemische und politische Dimension sichtbar zu machen.

Der Preis soll Ansporn sein, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. Das Potenzial, das der Siegerfilm zeigt, soll weiter ausgeschöpft werden. Die Preisträgerin wird dabei durch ein Mentorat unterstützt und soll beim nächsten Projekt von einem erfahrenen Filmemacher oder einer erfahrenen Filmemacherin begleitet werden.

Lobende Erwähnung für

HAMBI - DER KAMPF UM DEN HAMBACHER WALD
von Lukas Reiter | DE 2O19 | 85 Min.

HAMBI - DER KAMPF UM DEN HAMBACHER WALD von Lukas Reiter

Ein dokumentarischer Moment: türkische Mindestlohnarbeiter sitzen auf einem Baumstamm und beobachten ein groteskes Szenario zwischen Polizisten auf der Erde und Aktivisten in den Bäumen. Die Baumhäuser wirken wie Theaterbühnen mitten im Gesamtkunstwerk „Hambacher Forst“. Einer der Mindestlohnarbeiter sagt: „So zu leben ist doch gar nicht mehr nötig in Deutschland.“
Die Jury findet: Es ist absolut nötig, sich zu trauen, Dokumentarfilme mit solch erzählerischer und visueller Kraft zu machen. Filme, die Partei ergreifen, ohne die andere Seite zu denunzieren.

9. November 2O19, die Jury: Stefan Höh, Claudia Slanar, David Wegmüller

Im Anschluss an die Überreichung der „Carte Blanche“ verlieh das Land NRW, vertreten durch Dr. Hildegard Kaluza, ein Arbeitsstipendium für den künstlerischen Dokumentarfilm für Kinder oder Jugendliche, das in Kooperation mit dem Filmbüro NW und doxs!/Duisburger Filmwoche organisiert wird und mit 9.9OO Euro dotiert ist.
Das Stipendium geht an Filip Jacobson und sein Projekt „Bloß weg von zu Hause“. Der Filmemacher entwickelt darin gemeinsam mit jugendlichen Ausreißern eine Erzählung über Planung und Vollzug einer Flucht aus dem Elternhaus.

Publikumspreis der Rheinischen Post

Der mit 1.OOO Euro dotierte Publikumspreis der Rheinischen Post für den beliebtesten Film des Festivals, überreicht durch Peter Klucken, geht an

IM STILLEN LAUT
von Therese Koppe | DE 2O19 | 74 Min.

IM STILLEN LAUT von Therese Koppe Copyright Filmuniversität Babelsberg