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Räume

Räume erschließen, Welten vermessen

Zum 36. Mal Filmwoche: Duisburg öffnet die Räume für 26 Dokumentarfilme aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Acht Uraufführungen, fünf deutsche Erstaufführungen und 13 weitere von der Kommission für sehenswert und diskussionswürdig befundene Filme bekommen Platz auf der Leinwand und bei den anschließenden Diskussionen. Im 500. Geburtsjahr Gerhard Mercators zieht das Motto der Filmwoche eine Parallele zwischen dem revolutionären Projektionsverfahren des Duisburger Kartographen und der Wirklichkeitsvermessung des Dokumentarfilms. Gebaute Räume wie Gefängnisse, Krankenhäuser oder ganz gewöhnliche Wohnungen spielen in mehreren Filmen ein gewichtige Rolle – und die Menschen, die sich in diesen Räumen bewegen, zurechtfinden müssen. Erinnerungsräume öffnen sich im Programm: Biographien werden an prägende Orte gebunden. Kindheit und Adoleszenz mal als Idylle, mal als Isolation. Und die Erfahrung, dass sich die abgeschlossenen Räume der Vergangenheit gar nicht so leicht wieder betreten lassen.

Heimspiel

Eröffnet wird die 36. Duisburger Filmwoche mit der Uraufführung von Stahlbrammen und Pfirsiche der Dortmunder Filmstudenten Florian Pawliczek und Andy Michaelis. 25 Jahre nach dem Beginn des Rheinhauser Arbeitskampfes zeigt der Film die Hüttenwerke Krupp-Mannesmann in Duisburg-Hüttenheim, zu deren Gunsten der Standort Rheinhausen 1993 endgültig geschlossen wurde. Stahlkrise und industrieller Niedergang bilden im Film den unsichtbaren, der kochende Stahl selbst den sichtbaren Hintergrund für die Erzählungen einzelner Arbeiter von ihrer Verbundenheit mit dem Werk. In Richtung Nowa Huta kehrt Filmemacher Dariusz Kowalski nach zwanzig Jahren wieder zurück in seine Heimatstadt, die einst als sozialistische Modellstadt um ein Stahlwerk nahe Krakau gebaut wurde. "Sie sitzen in den Trümmern und küssen sich", heißt es einmal beim Hochzeits-Fotoshooting in einer verfallenen Fabrik.

Lebensräume

Auf 2000m2 mit Garten (Uraufführung) residieren zwei Frauen zusammen mit einer exquisiten Kunstsammlung, rosafarbenen und weißen Vasen. Tama Tobias-Macht durchmisst Räume von erlesener Sparsamkeit und beobachtet Abendgesellschaften und Bridge-Runden. Und sieht immer wieder dabei zu, wie Innen und Außen des Anwesens instand gehalten werden müssen. Der "Architektur als Autobiographie" hat sich Heinz Emigholz verschrieben und zeichnet den Aufbruch in die Moderne anhand von 30 Bauwerken und Ensembles der französischen Architekten und Bauingenieure Auguste und Gustave Perret nach – Perret in Algerien und Frankreich (deutsche Erstaufführung). Dabei wird auch sichtbar, wie der Beton durchlässig wird für die ganz unterschiedlichen kulturellen Umfelder. "Schneid doch mal den Schnittlauch" ist so eine der Regieanweisungen, mit denen Veronika Franz und Severin Fiala versuchen, sich ein Bild vom Filmemacher Peter Kern zu machen. Der findet das konzeptlos und nennt ihre Arbeit einen "Fuchtelfilm". Detlef Stoffel hat zwei Zuhause: das, in dem er mit seiner pflegebedürftigen Mutter wohnt, und die Schwulenbewegung der 1970er Jahre. Detlef – 60 Jahre schwul von Stefan Westerwelle und Jan Rothstein zeichnet ein Leben zwischen Fürsorgepflicht und der Erinnerung an eine Zeit nach, als Schwulsein noch nicht Lifestyle, sondern politisch war.

Funktionsräume

Die routinierten Abläufe zwischen Leben und Tod in einem Wiener Großklinikum nimmt Nikolaus Geyrhalter in Donauspital – SMZ Ost ins Visier. Hochspezialisierte Medizin vollzieht sich in Konferenzräumen, Operationssälen und Patientenzimmern. Und im Keller sorgen computergesteuerte Transportwagen für Nachschub und Entsorgung. Das persische Krokodil (deutsche Erstaufführung) von Houchang Allahyari und Mazyiar Gohari zeigt die verzweifelte Arbeit zweier Wildhüter, die im Südosten Irans ein Krokodil aus einer übergelaufenen Zisterne befreien wollen. Wie sich eine Familie mit einem Gedankengebäude aus Glaube, Sitte und Konservatismus gegen die Zudringlichkeiten der permissiven Gegenwart abzuschotten versucht, zeichnet Virgin Tales von Mirjam von Arx nach. In Colorado üben sich die Töchter der Wilsons in "pure waiting" bis zur Eheschließung, während Vater Randy mit evangelikalem Eifer für ein anderes Amerika kämpft. Ein ehemaliges Kartäuserkloster in den Bergen des Kantons Bern dient heute als Hochsicherheitsgefängnis: Dieter Fahrer zeigt in Thorberg (deutsche Erstaufführung), wie die Häftlinge versuchen, alleine mit ihrer Schuld zu leben und in der Abgeschiedenheit hinter Gittern nicht verrückt zu werden.

Archäologie

Traditionell ist Zigarettenrauch ein Mittel, den Diskursraum der Duisburger Filmwoche zu füllen. Und sieht man den Protagonisten in Ayla Gottschlichs Der Auftrag (Uraufführung) zu, kann man zumindest glauben, dass Rauchen der Wahrheitsfindung dienlich ist. Die nämlich haben Anwalt Sättele und sein Mandant Becht im Sinn. Doch es ist eine schwierige Sache mit der Erinnerung. Abgründe tun sich auf in Revision. Darin rollt Philipp Scheffner den Tod zweier Männer 1992 nahe der deutsch-polnischen Grenze wieder auf. Aus der Befragung von Zeugen, Akten und Hinterbliebenen formen sich die Konturen einer unerhörten Begebenheit. Grabungsfunde aus der alten Bundesrepublik präsentiert Heino Jaeger – look before you kuck von Gerd Kroske. Mit Gemälden, Zeichnungen sowie Film- und Tonaufnahmen umkreist er Leben und Kunst Heino Jaegers. Weggefährten versuchen, sich einem Leben anzunähern, das sich zwischen Kiez, Keller und Truppenübungsplatz abspielte und in der Psychiatrie zu Ende ging. Prominent bewundert von Loriot über Eckhard Henscheid bis Olli Dittrich, steht Heino Jaegers wirkliche Entdeckung bis heute aus. Handfeste Kostbarkeiten liegen unter dem Wüstensand der Mongolei. Sven Zellner und Chingunjav Borkhuu machen den Preis des Goldes sichtbar. Um an das Edelmetall heranzukommen, riskieren illegale Schürfer nicht nur, entdeckt und festgenommen zu werden, sondern tagtäglich auch ihr Leben: wenn sie praktisch ungesichert sprengen, um tiefer ins Gestein zu gelangen, und wenn sie dann das gefundene Gold mit hochgiftigem Quecksilber vom Gestein lösen.

Resonanzräume

Wie immer sind die Filmemacher vor Ort, um sich nach der Filmvorführung der Diskussion mit dem Publikum zu stellen. Manchmal bringen sie auch ihre Protagonisten mit. Zum Beispiel Janine Jembere, die mit Oben im Eck ein Porträt des ehemaligen Kunsthochschülers und Musikers Holger Hiller (Palais Schaumburg") versucht, indem sie sich an seinen musikalischen Sampling- und Montageverfahren orientiert. Nach Vorführung und Diskussion wird Holger Hiller am Freitagabend live im Kneipenraum des Gramatikoff performen. Das wird der dritte Abend der Reihe Nightline, mit der die Filmwoche in diesem Jahr das Programm in die Nacht verlängern wird. Am Mittwoch ist der Filmemacher und diesjährige Juror Philipp Mayrhofer zu Gast und legt unter der Überschrift Africa Addio " dance tracks for late night documentaries" auf. Am Donnerstag versucht sich Bernd Schoch alias burntbernd an den Decks – der Autor des diesjährigen Filmwoche-Trailers lieferte mit seinem preisgekrönten Film "Aber das Wort Hund bellt ja nicht" und dem daran angeschlossenen Auftritt des Protagonisten Alexander von Schlippenbach im vergangenen Jahr quasi die Vorlage für die diesjährige Nighltine.

Extras

Wie aber klingt eigentlich der Dokumentarfilm? Gibt es einen genuin dokumentarischen Filmton? Volko Kamensky und Julian Rohrhuber, Herausgeber des Buches Ton. Texte zur Akustik im Dokumentarfilm, gehen dieser Frage im gleichnamigen Extra nach.
Zum elften Mal findet gleichzeitig mit der Duisburger Filmwoche auch das Kinder- und Jugenddokumentarfilmfestival doxs! kino statt. Zu den seit jeher zahlreich im Filmwoche-Programm vertretenen Filmen über die Lebenswelten von Heranwachsenden ist durch doxs! auch ein Publikum hinzugekommen, das nicht durch Profession, sondern durch sein Alter "vom Fach" ist. Jetzt gilt es, professionelle Produzenten und diejenigen, über die da verhandelt wird, miteinander ins Gespräch zu bringen. Deshalb gibt es in Zusammenarbeit mit 3sat das Extra Junge Helden. Auf dem Podium tauschen sich ein Filmemacher, zwei Jugend-Juroren (des Preises GROSSE KLAPPE, der im Rahmen von doxs! verliehen wird) und eine 3sat-Filmredakteurin über die Praxis und die Perspektiven "junger" Dokumentarfilme aus.

Aus westlichen Richtungen

Am Dienstag um 19 Uhr wird in der Galerie JetztamDellplatz eine fünfkanalige Monitor-Installation eröffnet: Filmemacherin und Künstlerin Juliane Henrich (im vergangenen Jahr bei der Filmwoche mit "Tahrir im April") zeigt Aus westlichen Richtungen. In Momentaufnahmen westdeutscher Städte werden die Schnittstellen verschiedener Stil- und Zeitebenen in den Fokus gerückt – das Nebeneinander von Backstein, Beton, Glasbausteinen und anderen baulichen Strukturen, die sich über die Jahrzehnte zu bizarren Architekturformationen verschachtelt haben. "Aus westlichen Richtungen" ist eine Annäherung an die Frage, was Westdeutschland gewesen sein könnte. Oder immer noch ist.

En plus

Am 29. Juli dieses Jahres, seinem 91. Geburtstag, ist Chris Marker gestorben. Arte und die Duisburger Filmwoche würdigen den herausragenden Vertreter des Essayistischen Kinos im Anschluss an die Preisverleihung mit der Vorführung von Sans soleil. Der Film von 1983 markiert einen Wendepunkt im Werk des Autors wie im modernen Kino: ein Expeditionsbericht in das Innere des magischen Auges, ein ethnographischer Essay, das Tagebuch eines Besessenen. Ein Film, dessen Erfahrung Edgar Reitz so beschreibt: "Film ist etwas Unsichtbares, Unhörbares, ein Phänomen der Interferenz von Bildern und Sätzen, wie ich das in dieser reinen Form nie gesehen habe."

Am Sonntag um 15 Uhr werden wie immer ausgewählte Preisträgerfilme noch einmal zu sehen sein.

 

 

Das 3sat-Fernsehprogramm zur Duisburger Filmwoche:

Sonntag, 4. November, 21.45 Uhr

Das Schiff des Torjägers

von Heidi Specogna

D/CH 2010 | 91 Min. | Publikumspreis Duisburger Filmwoche 2010

 

Montag, 5. November, 23.10 Uhr

Der Vorführer

von Shaheen Dill-Riaz

D 2012 | 30 Min. | Erstausstrahlung | im Programm von doxs! kino 2012

 

Dienstag, 6. November, 22.25 Uhr

Sonnensystem

von Thomas Heise

D 2011 | 100 Min. | Erstausstrahlung | Duisburger Filmwoche 2011

 

Mittwoch, 7. November, 22.25 Uhr

Nichts für die Ewigkeit

von Britta Wandaogo

D 2011 | 81 Min. | Erstausstrahlung | Duisburger Filmwoche 2011

 

Sonntag, 11. November, 16.45 Uhr

Happy End

von Stanislaw Mucha

D 2012 | Erstausstrahlung | Duisburger Filmwoche 2012

 

Sonntag, 11. November, 21.45 Uhr

Der Auftrag

von Ayla Gottschlich

D 2012 | Erstausstrahlung | Duisburger Filmwoche 2012