44. Duisburger Filmwoche - doxs! dokumentarfilme für kinder und jugendliche #19 - Duisburg, Berlin, Hamburg, Köln, München, Wien, Zürich - 2. bis 8.11.2020

Wie weiter?

KONFERENZ ZUR DOKUMENTARISCHEN SERIE

»Die Zuschauer kamen wegen der Morde und blieben wegen der Form«

Dass eine faszinierend-bizarre Figur wie Joe Exotic pünktlich zum Beginn des Covid-19-Lockdowns auf die Menschheit losgelassen wurde, bescherte der Erzählform der Dokuserie den perfekten Sturm. Rund 64 Millionen Netflix-Haushalte riefen den Siebenteiler »Tiger King« in den ersten vier Wochen ab; die Serie und ihre Protagonisten wurden über Nacht zum globalen Internetphänomen. Dass echte Menschen und wahre Geschichten in horizontal fortgesetzter Erzählung ein ähnlich fesselndes Potenzial entfalten können wie »Stranger Things« oder »Game of Thrones«, wurde etlichen Konsumenten erst richtig bewusst, als ihre Lieblingsserien in der langen, unfreiwilligen Zeit zu Hause aufgebraucht waren. Für Macher von Dokumentarfilmen ist das Streben nach neuen Formaten nicht ganz neu – und dringend notwendig, seit ihre Werke im TV und Streaming weitaus mehr Publikum finden als auf der Kinoleinwand.

Für einen ersten großen Durchbruch und zahllose Nachahmer sorgten 2015/16 die True-Crime-Serien »The Jinx« (HBO), »Making a Murderer« (Netflix) und »O.J.: Made in America« (ESPN) – allesamt popkulturelle Phänomene, letztere gar Oscar-Preisträger. »Die Zuschauer kamen wegen der Morde, aber dann blieben sie wegen der Form«, so Mark und Jay Duplass, die Produzenten von »Evil Genius« und »Wild Wild Country«. Dies habe ein »völlig neues Reich des Storytelling« eröffnet. Zu den europäischen Pionieren des Formats zählt der britische Regisseur und Produzent Justin Webster, der die Welten des Fußballs (»Six Dreams«) oder der politischen Verschwörung (»Nisman«) seriell erschlossen hat. »Der Umgang mit der Wahrheit mag sich zwischen Nonfiction und Fiction zwar unterscheiden«, so Webster, »doch der Weg, eine Geschichte gut zu erzählen, ist der gleiche – nämlich durch starke Charaktere.«

Nach Auswertungen von Ampere Analysis bilden dokumentarische Formate eines der wichtigsten Wachstumsfelder für SVoD-Plattformen: Kein anderes Segment verzeichnete 2018/19 einen höheren prozentualen Zuwachs an verfügbaren Programmstunden. Knapp 6.000 Doku-Stunden finden sich demnach bei Amazon Prime Video, über 3.100 bei Netflix. Unter den dokumentarischen Originals der beiden Streaming-Riesen dominieren laut Ampere die Themen Crime & Thriller (21%) und Sport (19%). Das klassische TV zieht langsam nach: So rollt das ZDF, das bereits an Websters »Nisman« beteiligt war, in »Höllental« den mysteriösen Mordfall der neunjährigen Peggy Knobloch auf, während der SWR über sechs Folgen die Schicksale am sozialen Brennpunkt »Bayreuther Straße« beobachtet.

Moderation/Konzeption: Torsten Zarges