44. Duisburger Filmwoche - doxs! dokumentarfilme für kinder und jugendliche #19 - Duisburg, Berlin, Hamburg, Köln, München, Wien, Zürich - 2. bis 8.11.2020

Preise

Die Preisträger*innen der 44. Duisburger Filmwoche

ARTE-Dokumentarfilmpreis

Der ARTE-Dokumentarfilmpreis, dotiert mit 6.000 Euro, geht an

IF IT WERE LOVE
von Patric Chiha | FR 2020 | 82 Min.


Portrait: © Elsa Okazaki

 

 

Grußwort & Jury-Begründung im Video:
Das Grußwort spricht Dr. Markus Nievelstein, Geschäftsführer ARTE Deutschland. Die Begründung tragen die Jury-Mitglieder Esther Buss, Christian Popp und Serpil Turhan vor.

Begründung der Jury:
Körper bewegen sich in hypnotischer Zeitlupe, ekstatisch in der Gemeinschaft, und doch auch mit sich. Sie bewegen sich aufeinander zu, suchen und verfehlen sich, ihr Tanz ist wild, zärtlich und erotisch, ihr Fieber erfasst uns unmittelbar. Aus dem kollektiven Körper schälen sich allmählich individuelle Figuren und Gefühle heraus: Sie sprechen von Anziehung, Abstoßung und Symbiose, von Aggression, Einsamkeit und Verzweiflung, der Lust auf Sex und dem Wunsch nach Liebe. Die Gefühle sind groß und werden in der gedehnten Zeitwahrnehmung der Slow Motion übergroß. Si c’était de l’amour – im „wenn“ liegt eine Verunsicherung wie eine Möglichkeit. „If It Were Love“ ist weniger ein Film über das Raveparty-Stück „Crowd“ der französischen Theatermacherin und Choreografin Gisèle Vienne, als „mit“. Jede Bewegung, jede Geste, jedes Gesicht, jeder Blick, scheint den Film vollständig zu durchdringen. Im Zusammenspiel von Körpern und Affekten, von Musik, Kamera, Licht und Montage entsteht so ein ganz eigener Erfahrungsraum – voller Magie und Intensität. Die Frage nach der Differenz von Dokumentation und Fiktion, Bühnenfigur und Tänzer*in, Körperkontrolle und Selbstverlust ist bald vergessen und egal sowieso. Wenn Patric Chiha und Gisèle Vienne zusammen tanzen, sind die Grenzen so fluide wie die (sexuellen) Identitäten.
Chiha hat mit „If It Were Love“ einen erschütternd sensuellen, erschütternd empfindsamen Film gemacht, der noch immer tief in unseren Körpern steckt. In einer Zeit, die nach Abstand verlangt, ist dieses Erlebnis ein umso wertvolleres Geschenk.

 

 

Gruß des Preisträgers im Video.

 

Lobende Erwähnung für

KUNST KOMMT AUS DEM SCHNABEL WIE ER GEWACHSEN IST
von Sabine Herpich | DE 2020 | 106 Min.

KUNST KOMMT AUS DEM SCHNABEL WIE ER GEWACHSEN IST
Portrait: © Tobias Büchner

Eine lobende Erwähnung möchten wir für den Film einer Filmemacherin aussprechen, der es auf wunderbare Weise schafft, Kunst als existentielle Beschäftigung mit der Innen- und Außenwelt einzufangen. Die Ruhe, Geduld und Zugewandtheit in der Beobachtung entsprechen dabei der behutsamen Herangehensweise der porträtierten Künstler*innen und ihrer Begleiter*innen in der Kunstwerkstatt Mosaik in Berlin. Sabine Herpichs Empathie und respektvolle Distanz erschaffen einen viel zu seltenen dokumentarischen Einblick in die kreative Welt von Menschen mit Behinderung und heben implizit den Dualismus von Insider- und Outsider-Kunst auf. „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist“ ist ein großartiger Film, der uns beeindruckt und bewegt hat.

9. November 2020, die Jury: Esther Buss, Christian Popp, Serpil Turhan


3sat-Dokumentarfilmpreis

Der 3sat-Dokumentarfilmpreis, dotiert mit 6.000 Euro, geht an

KUNST KOMMT AUS DEM SCHNABEL WIE ER GEWACHSEN IST
von Sabine Herpich | DE 2020 | 106Min.

KUNST KOMMT AUS DEM SCHNABEL WIE ER GEWACHSEN IST Sabine Herpich
Portrait: © Tobias Büchner

 

 

Grußwort & Jury-Begründung im Video:
Das Grußwort spricht Natalie Müller-Elmau, Koordinatorin 3sat.
Die Begründung trägt Gabriele Mathes vor.

Begründung der Jury:
Der Blick der Kamera ist konzentriert. Unaufdringlich richtet er sich auf das Wesentliche: die Menschen in der Berliner Kunstwerkstatt Mosaik und die besonderen Bedingungen, unter denen ihre Arbeiten entstehen. Da ist zum Beispiel Suzy van Zehlendorf, die sich mit einer Neuinterpretation kanonischer Werke der Kunstgeschichte (sie ersetzte Menschen- durch Hahnenköpfe) einen Namen gemacht hat. Oder der betagte Adolf Beutler, dessen geniale Schraffierungen auch nicht vor dem Stuhl haltmachen, auf dem er sitzt. Ihre Behinderungen sind sichtbar, werden vom Film aber weder vorgeführt noch verklärt oder unnötig aufgebauscht. Sie sind einfach da, genauso selbstverständlich wie die Begabungen, mit denen uns die Protagonist*innen im Laufe des Films immer mehr für sich einnehmen. Der Galerist, der eine Ausstellung mit Arbeiten aus der Kunstwerkstatt plant, bringt es sinngemäß so auf den Punkt: Ein Kunstwerk ist ein Kunstwerk, egal, ob der Künstler gehen oder sprechen kann.
Unvoreingenommen, außergewöhnlich langmütig und einfühlsam porträtiert „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist“ nicht nur eine vorbildliche soziale und künstlerische Einrichtung. Wie beiläufig wirft der Film auch die ganz großen Fragen auf – nach dem Wesen der Kunst, den Bedingungen ihrer Produktion und ihrer gesellschaftlichen Relevanz. So ernst, reflektiert, genau und schön sind Filme selten. Das hat uns sehr berührt.

 

 

Gruß der Preisträgerin im Video.

9. November 2020, die Jury: Michael Baute, Gabriele Mathes, Julia Zutavern

 

Preis der Stadt Duisburg

Der Preis der Stadt Duisburg für kurzen und mittellangen Dokumentarfilm, dotiert mit 5.000 Euro, geht an

WOHNHAFT ERDGESCHOSS
von Jan Soldat | DE, AT 2020 | 48 Min.

WOHNHAFT ERDGESCHOSS 
von Jan Soldat

 

 

Das Grußwort spricht Oberbürgermeister Sören Link. Die Begründung tragen die Jury-Mitglieder Jenny Billeter, Andreas Bolm und Samira El Ouassil vor.

Begründung der Jury:        
Darf ich?“, fragt der nackte Mann, der in einer Kammer an einem schmalen Bett steht und seinen Penis in der Hand hält – und beginnt auf das Bett zu pissen. Im Internet ist sein Nickname der „Bettpinkler“. Danach sitzt Protagonist Heiko nackt vor seinem chaotischen Computertisch – sein zugemülltes Wohnzimmer ist so vielschichtig wie seine Lebensgeschichte, die wir im Laufe des Filmes erfahren werden.
Wir stehen mit dem Regisseur inmitten von Heikos haptischer Lebenswirklichkeit, dem Schmutz und Gestank, und es ist die Neugier des Filmemachers, die uns aus Heikos Höhle im Erdgeschoss in dessen Heimatort führt. Durch die Selbstverständlichkeit, mit der Soldat seinen Protagonisten Heiko auf seiner Reise porträtiert, erzeugt der Regisseur einen intimen, beinahe zärtlichen Blick, der Heikos Neigung von etwas Abstoßendem in etwas Tröstliches verwandelt.
Soldat schafft eine ihm eigene, nüchterne Ästhetik, die sich mit Hilfe der statischen Kamera, dem DV-Format und dem 4:3-Bildverhältnis organisch mit Heikos schmerzhaften Erinnerungen, seiner Nacktheit und seinem Urin vermengt. 
Zudem greift der Regisseur mit der Porträtierung eines Menschen, der als Kind geschlagen wurde und nach Zusammenbruch der DDR durch das soziale Netz fiel, ein gesellschaftspolitisch relevantes Thema auf. Jan Soldat vermeidet, die Lebensgeschichte von Heiko zu pathologisieren oder zu stigmatisieren. Wir haben hier keine Freakshow, sondern eine respektvolle Darstellung eines Menschen.

 

 

Gruß des Preisträgers im Video.

 

Lobende Erwähnung für

ICH HABE DICH GELIEBT
von Rosa Hannah Ziegler | DE 2020 | 42 Min.

ICH HABE DICH GELIEBT
von Rosa Hannah Ziegler

„Ich habe dich geliebt” erzählt das Ende der Liebesgeschichte eines jungen Paares. In Vignetten der Kommunikationslosigkeit, deren Scharniere TikTok-Videos sind, dokumentiert der Film die Dialogunfähigkeit seiner beiden Hauptfiguren. Diese ist in seiner Inszenierung ambivalent und herausfordernd und gerade deshalb spannend in seiner Verhandlung der permanenten Sichtbarkeit in sozialen Netzwerken.

9. November 2020, die Jury: Jenny Billeter, Andreas Bolm, Samira El Ouassil

 

„Carte Blanche“ Nachwuchspreis des Landes NRW

Der „Carte-Blanche“ Nachwuchspreis des Landes NRW, dotiert mit 5.000 Euro, geht an

JETZT ODER MORGEN
von Lisa Weber | AT 2020 | 90 Min.


Portrait: © Marisa Vranješ

 

 

Das Grußwort spricht Klaus Kaiser, Parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Begründung tragen die Jury-Mitglieder Jenny Billeter, Andreas Bolm und Samira El Ouassil vor.

Begründung der Jury:
„There can be miracles“ heißt das Lied, das wie ein Leitmotiv mehrmals im Film von Lisa Weber auftaucht. Allerdings gibt es die Wunder nicht für jeden. Der Lieblingssong der Protagonistin Claudia steht im Kontrast zu der Ausweglosigkeit ihrer Lebensumstände. 
In ihrer Milieustudie beobachtet die Regisseurin Lisa Weber über drei Jahre die junge Mutter, ihren kleinen Sohn, die Oma und den arbeitslosen Bruder, die inmitten von Plastikspielzeug, Bildschirmen und ein paar Haustieren in einer verrauchten Wiener Stadtrandwohnung ihr Dasein fristen. Konsumieren und konsumiert werden. Die Regisseurin fragt hinter der Kamera, ob Claudia bei der Lehrstellensuche weitergekommen sei. Anfangs noch enthusiastisch und hoffnungsvoll, später traut sie sich nicht mehr zu fragen. Die Ernüchterung ist im Film zu spüren.
Schonungslos, weil nah am Alltag der Protagonisten und doch fürsorglich, erzeugt der Film Mitgefühl statt Mitleid und stellt die Familie nicht bloß. Trotzdem erreicht uns die lähmende Lethargie einer schmerzhaften sozialen Realität, in der die Zeit spurlos verrinnt – nur die Geburtstagspartys markieren, wie die Jahre vergehen. Hierbei gelingt es dem Film auf eindrückliche Weise, die Statik von Sozialdynamiken abzubilden. “There are no miracles”.

Der Preis soll Ansporn sein, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. Das Potenzial, das der Siegerfilm zeigt, soll weiter ausgeschöpft werden. Die Preisträgerin wird dabei durch ein Mentorat unterstützt und soll beim nächsten Projekt von einem erfahrenen Filmemacher oder einer erfahrenen Filmemacherin begleitet werden.

 

 

Gruß der Preisträgerin im Video

 

Lobende Erwähnung für

FIRST IN FIRST OUT
von Zacharias Zitouni | DE, AL 2019 | 26 Min.

FIRST IN FIRST OUT von Zacharias Zitouni

Der Filmemacher erzählt die Kennenlerngeschichte seiner Eltern, einem Algerier und einer Deutschen. Mit der Stimme der Mutter und Aufnahmen vom Vater bei der Arbeit geht er dem Widerspruch nach, dass der Vater heute für die Polizei kocht, die ihn damals abgeschoben hat. Mit seinem sehr persönlichen Zugang streift Zacharias Zitouni aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse rund um Integration und die Generationenkonflikte herkunftsdiverser Familien.

9. November 2020, die Jury: Jenny Billeter, Andreas Bolm, Samira El Ouassil


Online-Publikumspreis

Der Online-Publikumspreis, dotiert mit 1.000 Euro, geht an

SPUREN – DIE OPFER DES NSU
von Aysun Bademsoy | DE 2019 | 81 Min.

Aysun Bademsoy

Begründung der Jury:
Der Publikumspreis der Duisburger Filmwoche 2020 geht an den aus unserer Sicht wichtigsten Beitrag zum diesjährigen Wettbewerb.
„Spuren" richtet einen einfühlsamen Blick auf die Hinterbliebenen der NSU-Opfer und deren Trauer, aber auch die Bewältigung der Verletzungen durch eklatantes Versagen der Sicherheitsbehörden, das viel zu lang aus Opfern Täter gemacht hatte. Der Film folgt den Spuren der Nachwirkungen ohne anzuklagen; er ermahnt uns als Gesellschaft auch 20 Jahre nach Beginn der Mordserie, uns mit den Opfern und deren Leid zu beschäftigen; er erinnert uns, dass der Urteilsspruch gegen die Haupttäterin keinen Schlusspunkt setzen kann und darf. „Spuren“ ist somit ein wichtiger Beitrag zur aktuellen Diskussion um Rassismus in der Mitte unserer Gesellschaft.

 

 

Gruß der Preisträgerin im Video.

9. November 2020, die Jury: Ina Bunge, Michel Klöfkorn, Alissa Krusch, Birgit Pollock, Reiner Siebert