Preise
Die Preisträger*innen der 44. Duisburger Filmwoche
ARTE-Dokumentarfilmpreis
Der ARTE-Dokumentarfilmpreis, dotiert mit 6.000 Euro, geht an
IF IT WERE LOVE
von Patric Chiha | FR 2020 | 82 Min.
Portrait:
© Elsa Okazaki
Grußwort & Jury-Begründung im Video:
Das Grußwort spricht Dr. Markus Nievelstein, Geschäftsführer ARTE Deutschland. Die Begründung tragen die Jury-Mitglieder Esther Buss, Christian Popp und Serpil Turhan vor.
Begründung der Jury:
Körper bewegen sich in hypnotischer Zeitlupe, ekstatisch in der Gemeinschaft, und doch auch mit sich. Sie bewegen sich aufeinander zu, suchen und verfehlen sich, ihr Tanz ist wild, zärtlich und erotisch, ihr Fieber erfasst uns unmittelbar. Aus dem kollektiven Körper schälen sich allmählich individuelle Figuren und Gefühle heraus: Sie sprechen von Anziehung, Abstoßung und Symbiose, von Aggression, Einsamkeit und Verzweiflung, der Lust auf Sex und dem Wunsch nach Liebe. Die Gefühle sind groß und werden in der gedehnten Zeitwahrnehmung der Slow Motion übergroß. Si c’était de l’amour – im „wenn“ liegt eine Verunsicherung wie eine Möglichkeit. „If It Were Love“ ist weniger ein Film über das Raveparty-Stück „Crowd“ der französischen Theatermacherin und Choreografin Gisèle Vienne, als „mit“. Jede Bewegung, jede Geste, jedes Gesicht, jeder Blick, scheint den Film vollständig zu durchdringen. Im Zusammenspiel von Körpern und Affekten, von Musik, Kamera, Licht und Montage entsteht so ein ganz eigener Erfahrungsraum – voller Magie und Intensität. Die Frage nach der Differenz von Dokumentation und Fiktion, Bühnenfigur und Tänzer*in, Körperkontrolle und Selbstverlust ist bald vergessen und egal sowieso. Wenn Patric Chiha und Gisèle Vienne zusammen tanzen, sind die Grenzen so fluide wie die (sexuellen) Identitäten.
Chiha hat mit „If It Were Love“ einen erschütternd sensuellen, erschütternd empfindsamen Film gemacht, der noch immer tief in unseren Körpern steckt. In einer Zeit, die nach Abstand verlangt, ist dieses Erlebnis ein umso wertvolleres Geschenk.
Gruß des Preisträgers im Video.
Lobende Erwähnung für
KUNST KOMMT AUS DEM SCHNABEL WIE ER GEWACHSEN IST
von Sabine Herpich | DE 2020 | 106 Min.
Portrait: © Tobias Büchner
Eine lobende Erwähnung möchten wir für den Film einer Filmemacherin aussprechen, der es auf wunderbare Weise schafft, Kunst als existentielle Beschäftigung mit der Innen- und Außenwelt einzufangen. Die Ruhe, Geduld und Zugewandtheit in der Beobachtung entsprechen dabei der behutsamen Herangehensweise der porträtierten Künstler*innen und ihrer Begleiter*innen in der Kunstwerkstatt Mosaik in Berlin. Sabine Herpichs Empathie und respektvolle Distanz erschaffen einen viel zu seltenen dokumentarischen Einblick in die kreative Welt von Menschen mit Behinderung und heben implizit den Dualismus von Insider- und Outsider-Kunst auf. „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist“ ist ein großartiger Film, der uns beeindruckt und bewegt hat.
9. November 2020, die Jury: Esther Buss, Christian Popp, Serpil Turhan
3sat-Dokumentarfilmpreis
Der 3sat-Dokumentarfilmpreis, dotiert mit 6.000 Euro, geht an
KUNST KOMMT AUS DEM SCHNABEL WIE ER GEWACHSEN IST
von Sabine Herpich | DE 2020 | 106Min.
Portrait: © Tobias Büchner
Grußwort & Jury-Begründung im Video:
Das Grußwort spricht Natalie Müller-Elmau, Koordinatorin 3sat.
Die Begründung trägt Gabriele Mathes vor.
Begründung der Jury:
Der Blick der Kamera ist konzentriert. Unaufdringlich richtet er sich auf das Wesentliche: die Menschen in der Berliner Kunstwerkstatt Mosaik und die besonderen Bedingungen, unter denen ihre Arbeiten entstehen. Da ist zum Beispiel Suzy van Zehlendorf, die sich mit einer Neuinterpretation kanonischer Werke der Kunstgeschichte (sie ersetzte Menschen- durch Hahnenköpfe) einen Namen gemacht hat. Oder der betagte Adolf Beutler, dessen geniale Schraffierungen auch nicht vor dem Stuhl haltmachen, auf dem er sitzt. Ihre Behinderungen sind sichtbar, werden vom Film aber weder vorgeführt noch verklärt oder unnötig aufgebauscht. Sie sind einfach da, genauso selbstverständlich wie die Begabungen, mit denen uns die Protagonist*innen im Laufe des Films immer mehr für sich einnehmen. Der Galerist, der eine Ausstellung mit Arbeiten aus der Kunstwerkstatt plant, bringt es sinngemäß so auf den Punkt: Ein Kunstwerk ist ein Kunstwerk, egal, ob der Künstler gehen oder sprechen kann.
Unvoreingenommen, außergewöhnlich langmütig und einfühlsam porträtiert „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist“ nicht nur eine vorbildliche soziale und künstlerische Einrichtung. Wie beiläufig wirft der Film auch die ganz großen Fragen auf – nach dem Wesen der Kunst, den Bedingungen ihrer Produktion und ihrer gesellschaftlichen Relevanz. So ernst, reflektiert, genau und schön sind Filme selten. Das hat uns sehr berührt.
Gruß der Preisträgerin im Video.
9. November 2020, die Jury: Michael Baute, Gabriele Mathes, Julia Zutavern
Preis der Stadt Duisburg
Der Preis der Stadt Duisburg für kurzen und mittellangen Dokumentarfilm, dotiert mit 5.000 Euro, geht an
WOHNHAFT ERDGESCHOSS
von Jan Soldat | DE, AT 2020 | 48 Min.
Das Grußwort spricht Oberbürgermeister Sören Link. Die Begründung tragen die Jury-Mitglieder Jenny Billeter, Andreas Bolm und Samira El Ouassil vor.
Begründung der Jury:
„Darf ich?“, fragt der nackte Mann, der in einer Kammer an einem schmalen Bett steht und seinen Penis in der Hand hält – und beginnt auf das Bett zu pissen. Im Internet ist sein Nickname der „Bettpinkler“. Danach sitzt Protagonist Heiko nackt vor seinem chaotischen Computertisch – sein zugemülltes Wohnzimmer ist so vielschichtig wie seine Lebensgeschichte, die wir im Laufe des Filmes erfahren werden.
Wir stehen mit dem Regisseur inmitten von Heikos haptischer Lebenswirklichkeit, dem Schmutz und Gestank, und es ist die Neugier des Filmemachers, die uns aus Heikos Höhle im Erdgeschoss in dessen Heimatort führt. Durch die Selbstverständlichkeit, mit der Soldat seinen Protagonisten Heiko auf seiner Reise porträtiert, erzeugt der Regisseur einen intimen, beinahe zärtlichen Blick, der Heikos Neigung von etwas Abstoßendem in etwas Tröstliches verwandelt.
Soldat schafft eine ihm eigene, nüchterne Ästhetik, die sich mit Hilfe der statischen Kamera, dem DV-Format und dem 4:3-Bildverhältnis organisch mit Heikos schmerzhaften Erinnerungen, seiner Nacktheit und seinem Urin vermengt.
Zudem greift der Regisseur mit der Porträtierung eines Menschen, der als Kind geschlagen wurde und nach Zusammenbruch der DDR durch das soziale Netz fiel, ein gesellschaftspolitisch relevantes Thema auf. Jan Soldat vermeidet, die Lebensgeschichte von Heiko zu pathologisieren oder zu stigmatisieren. Wir haben hier keine Freakshow, sondern eine respektvolle Darstellung eines Menschen.